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4.4. Virtuelle Gemeinschaften und ephemere Gruppen

 

Seit den Anfängen der Kommunikation via Computer wurde die Entwicklung der Netzwerke von verschiedenen Erwartungen begleitet. Eine dieser Erwartungen, die Entstehung ,,virtueller Gemeinschaften``, soll sich erfüllt haben.(135) Das soll nicht bestritten werden; denn nicht nur die Stichprobe legt nahe, daß die Kommunikation über das Usenet begleitet wird von ansatzweise beschreibbaren sozialen Gebilden. Strittig ist allerdings die Frage, wie eine virtuelle Gemeinschaft abgegrenzt werden kann.

Die Idee einer virtuellen Gemeinschaft ist nicht unumstritten. Weinreich argumentiert, daß Gemeinschaften auf der sinnlichen Erfahrung einer realen Begegnung beruhen. ,,Trust, cooperation, friendship and community are based on contacts in the sensual world.``(136) Er rückt damit den Begriff der Gemeinschaft in die Nähe der Tönnies'schen Auffassung von geistiger Gemeinschaft: ,,[...] im gegenseitigen Vertrauen und Glauben aneinander muß sich die besondere Wahrheit solcher Beziehungen kundtun.``(137) Nach Weinreichs Argumentation muß der Begriff ,,virtuelle Gemeinschaft`` als contradictio in adjecto bewertet werden, weil eine Gemeinschaft nie virtuell sein kann.

Dagegen müssen zwei Einwände erhoben werden. Zum einen läßt sich die Tatsache, daß die Kommunikation soziale Gebilde zur Folge hat, nicht leugnen. Ein extremes Beispiel bot die Auseinandersetzung zwischen den Autoren der Nachrichtengruppen alt.tasteless und rec.pets.cats. Die Beschreibungszeile zu alt.tasteless lautet nur: ,,Truly disgusting.`` Die Nachrichtengruppe dient der Besprechung von Geschmacklosigkeiten aller Art. Eines Tages ,,someone - no one remembers who - suggested invading another Usenet group.``(138) Die Autoren von alt.tasteless wählten rec.pets.cats, eine Nachrichtengruppe, die der Diskussion um Katzen als Haustiere dient, als Ziel ihrer Aktion. Die Invasion begann mit Artikeln deren voller geschmackloser Gehalt nur den Eingeweihten von alt.tasteless verständlich war. Einige Autoren von rec.pets.cats nahmen die in den Artikeln geschilderten Probleme ernst und gaben Ratschläge. Regelmäßige Schreiber aus alt.tasteless nutzten dagegen die Gelegenheit, mit Widerwärtigkeiten zu antworten. Die Kommunikation in rec.pets.cats wurde so einige Monate lang gestört und führte unter anderem dazu, daß eine Reihe regelmäßiger Autoren in Schweigen verfielen. Planung, Koordination und Ausführung dieses Unternehmens machen unmißverständlich deutlich, daß Individuen ohne direkten Kontakt gruppenähnlich interagieren können.

Zum anderen muß gegen die Argumentation von Weinreich eingewendet werden, daß die virtuelle Gemeinschaft ihre Wurzeln nicht in dem Tönnies'schen Begriff hat. Die Idee einer Gemeinschaft, die sich über ein Computer-Netzwerk konstituiert, geht zurück auf den 1968 erschienen Aufsatz ,,The Computer as a Communication Device`` von Licklider und Taylor.(139) Darin wird dem Computer vor allem die Rolle zugeschrieben, die Kommunikation zu unterstützen, weil sie der Lösung von Problemen am dienlichsten ist. Die Autoren kommen dann auf ,,on-line interactive communities``(140) zu sprechen. Diese gäbe es schon in den verschiedenen Rechenzentren, die Computer bereitstellten, an denen mehrere Benutzer zugleich arbeiten können. Kollegen hätten die Möglichkeit, Daten und Programme gemeinsam zu nutzen. Durch eine Vernetzung dieser Zentren (141) ließen sich die unterschiedlichen Ressourcen zu Informationsnetzwerken miteinander verknüpfen und auch von entfernten Stellen erreichen. Die bisherigen Gemeinschaften bestünden in Gruppen von technischen Spezialisten; mit der Verbreitung eines für alle Interessenten erreichbaren und erschwinglichen Netzwerks ergäbe sich dann die Möglichkeit, Gemeinschaften zu bilden, die nicht mehr auf topographischer Nähe beruhten, sondern auf gemeinsamem Interesse. Demzufolge bildeten nach Licklider und Taylor die Teilnehmer einer Nachrichtengruppe im Usenet eine Gemeinschaft, weil sie ohne Rücksicht auf topographische Umstände ihr gemeinsames Interesse verfolgen können. Das heißt, die Gleichsetzung des Forums mit den darin Schreibenden wäre gerechtfertigt (s. 2.2.1.).

Die Idee der ,,on-line interactive communities`` nimmt Howard Rheingold wieder auf und prägt den Begriff der ,,virtuellen Gemeinschaft``. Seine Definition: ,,Virtual communities are social aggregations that emerge from the Net when enough people carry on those public discussions long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationships in cyberspace,``(142) erweist sich jedoch als ebensowenig hilfreich bei der Festlegung, wann von einer virtuellen Gemeinschaft gesprochen werden kann. Lag die Betonung bei Licklider und Taylor noch auf der Überwindung der Distanz und dem gemeinsamen Interesse, verlagert Rheingold sie auf das Entstehen persönlicher Beziehungen. Die schlichte Übersetzung der virtuellen Gemeinschaft in das ,,Geflecht persönlicher Beziehungen unter genügend Leuten`` macht das soziale Gebilde jedoch keineswegs greifbarer. Die Frage, ob in einer Nachrichtengruppe eine virtuelle Gemeinschaft anzutreffen ist, könnte nicht vom Betrachter entschieden werden, sondern hinge von den subjektiven Einschätzungen der Teilnehmer ab.

Andere Überlegungen, die Existenz virtueller Gemeinschaften festlegen zu können, versuchten Grenzen entlang der Anwendung von Regeln zu ziehen. Die Netiquette als ein solches Regelwerk anzusehen, erwies sich als unpraktikabel.(143) Gegen den Versuch von Baym, bestimmte Gepflogenheiten einer Nachrichtengruppe als einen Hinweis auf eine virtuelle Gemeinschaft zu lesen, wurde im letzten Abschnitt argumentiert: Solche Eigenheiten dürfen nicht als Indiz für eine Gemeinschaft mißverstanden werden, sondern sie werden durch das Medium erzwungen.

Noch einen Schritt weiter geht Höflich: ,,»Elektronische Gemeinschaften« als »soziale Welten« zeichnen sich durch je eigene Bedeutungswelten mit einem eigenem Symbolbestand, Perspektiven und Identitäten aus. Dies manifestiert sich in der Entwicklung einer eigenen Gruppensprache, die mitunter durch eine distinkte elektronische Parasprache zum Ausdruck kommt und letztlich mit einer Selbstbestätigung der Gruppenmitglieder durch Intalk respektive durch eine Abgrenzung gegenüber Außenstehenden verbunden ist.``(144) Mit dieser Beschreibung einer elektronischen Gemeinschaft wird die Grenze nicht nur auf einer rein sprachlichen Ebene gezogen: Die Mitglieder einer Gemeinschaft entwickeln nicht nur eine gemeinsame Sprache, sondern auch eine eigene Symbolwelt. Eine solche Auffassung scheint mir ungeeignet, eine elektronische Gemeinschaft einzugrenzen, weil drei Faktoren, die sowohl auf die Sprache wie auf den Symbolbestand Einfluß nehmen, nicht berücksichtigt werden. Erstens steht zu erwarten, daß mit dem vertikalen Informationsraum einer Nachrichtengruppe auch ein spezieller Jargon einhergeht, der das punktuelle Interesse einer Nachrichtengruppe widerspiegelt. Zweitens kann, wie im Fall des Themas Stierkampf, auf eine bestehende Kultur und deren Sprachschatz zurückgegriffen werden. Diesen Jargon in der Kommunikation über das Usenet zu verwenden, macht aus den Beteiligten keine elektronische Gemeinschaft. Drittens vermisse ich die Einsicht, daß die Tatsache der textbasierten Kommunikation den Text mitgestaltet.

Es ist angebracht, vor der Ausweisung einer virtuellen Gemeinschaft die Gebilde, die über einen Kanal des Usenet entstehen, zu differenzieren. Das ,,disperse Publikum`` bleibt als undifferenzierter Empfänger erhalten: Es wird durch eine Zuwendung zu einer Aussage der Massenkommunikation konstituiert, die Empfänger sind räumlich getrennt, und die Aussagen werden durch ein Massenmedium übermittelt.(145) Die Möglichkeit, selber zu senden, erlaubt eine Differenzierung des dispersen Publikums, die im Bereich der herkömmlichen Massenmedien nicht möglich war. In Anlehnung an die ,,informelle Gruppe`` schlage ich daher den Begriff ,,ephemere Gruppe`` vor. Mit der ephemeren Gruppe sollen alle Sender in einem Kanal, die dessen Rahmen berücksichtigen, innerhalb eines bestimmten Zeitraums zusammengefaßt werden. Demnach bilden z.B. jene 39 Verfasser in alt.culture.bullfight eine ephemere Gruppe, deren Beiträge den Rahmen der Nachrichtengruppe berücksichtigen. Es entfallen die zehn Autoren, deren Artikel als Spam einzuordnen sind. Die Gruppe wird als ephemer charakterisiert, um die Flüchtigkeit ihrer Zusammensetzung und ihrer Struktur zu betonen. Sie muß schon deshalb flüchtig erscheinen, weil ein anderer Zeitraum mit großer Wahrscheinlichkeit eine andere Gruppe ergeben hätte.

Anzunehmen ist, daß Teile von ephemeren Gruppen in Stichproben eines Kanals, die zu verschiedenen Zeitpunkten gezogen werden, sich überschneiden. Eine Teilmenge der ephemeren Gruppe kann sich also in der personellen Zusammensetzung als stabil erweisen. Allein durch die zeitliche Konstanz wäre keine virtuelle Gemeinschaft gegeben. Die zeitliche Stabilität verwiese nur darauf, daß Nachrichtengruppen einen Stamm von Autoren haben können.

Eine virtuelle Gemeinschaft kann folgerichtig nur in einer Untermenge der ephemeren Gruppe bestehen. Die Frage, wie sie nachgewiesen werden kann, und welche Indikatoren dafür verwendet werden sollten, beantworte ich etwas umständlicher. Rheingolds Definition zufolge, müßten sich persönliche Beziehungen zwischen den Autoren eines Kanals entwickeln. In alt.culture.bullfight verliefen die Diskussionen selbst an kritischen Stellen moderat, während sich die Autoren gegenüber dem Tierschützer heftig äußerten. Auf Grund dieses Verhaltens ließe sich den Autoren eine persönliche Rücksichtnahme auf die anderen Beteiligten unterstellen. Das Problem einer solchen Einschätzung besteht darin, daß die Interpretation zwar gerechtfertigt sein mag, aber die andere Sichtweise, nämlich daß sich darin eher die Rücksicht auf den Kanal ausspricht, wahrscheinlicher ist. Die Auseinandersetzungen, welche das Mißverständnis des Gedichts in alt.vampyres begleiteten, konnten ähnlich interpretiert werden: In den Artikeln sprach sich in verschiedenen Formulierungen eine Rücksicht auf die Gruppe aus. In beiden Fällen sehe ich ein Manko darin, daß eine virtuelle Gemeinschaft nur über die Interpretation konstruiert werden könnte und in den Texten nicht sicher nachgewiesen werden kann.

Mit der textbasierten Kommunikation bietet sich eine verhältnismäßig einfache Lösung des Problems: Wenn eine virtuelle Gemeinschaft existiert, muß sie sich in den Texten explizit manifestieren. Das Beispiel des Listenführens in alt.vampyres war in dieser Hinsicht kraß und deutlich. Neben die bereits benannten Diskurse des Themas und des Fehlerprotokolls träte demnach ein dritter, der sich den sozialen Bindungen innerhalb der Gruppe widmet. Dazu gehört auch die Selbstwahrnehmung als Gruppe sowie die Tendenz, den Mitgliedern bestimmte Rollen zuzuschreiben. Es kann angenommen werden, daß den regelmäßig in alt.culture.bullfight Schreibenden ähnliche Zuschreibungen möglich wären. Zwar scheinen auch hier Bekanntschaften zu existieren, die über den Kontakt in der Nachrichtengruppe hinausgehen - das legt die Wette nahe -, aber die Trennlinie zwischen der ephemeren Gruppe in alt.culture.bullfight und der virtuellen Gemeinschaft in alt.vampyres verläuft darin, daß weder die Bekanntschaft noch die Gruppe zum Thema gemacht wird. Im Gegensatz also zur Auffassung von Rheingold spricht nicht die Tatsache, daß persönliche Beziehungen entstehen, für eine virtuelle Gemeinschaft, sondern daß unter anderem die Beziehungen besprochen werden.


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