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4.2.2. Gestaltung

 

Bei einer formalen Aufteilung eines Artikels in den Text der Mitteilung einerseits und Kopfzeilen sowie Signatur andererseits, kann die Signatur als bevorzugter Abschnitt der Selbstdarstellung gelten. Begründen läßt sich diese Behauptung mit dem Hinweis, daß Signaturen für die Kommunikation über das Usenet schlicht überflüssig sind. Alle zur Kommunikation notwendigen Informationen - ob über das Usenet oder per E-Mail - stecken bereits in den Kopfzeilen. Demnach enthalten Signaturen entweder redundante Informationen oder ergänzen Artikel um Aspekte, die von den Autoren standardisiert wurden.

Mit der Verwendung von Gothcodes in den Signaturen einiger Artikel in alt.vampyres (s. Abschnitt 3.2.2.) werden die Auskünfte, die Autoren über sich erteilen, präzisiert und schematisiert. Der Gothcode wurde in Anlehnung an den bekanntesten dieser Codes, den Geekcode entwickelt (av/2792).(124) Ursprünglich meinte das Wort ,,Geek`` die abfällige Einschätzung eines Computertüftlers, der nur noch mit seinem Rechner interagieren kann.(125) Die Bedeutung wurde ins Positive gewendet und ist nach Aussage des derzeitigen Entwicklers dieses Codes auf dem besten Weg eine weite Verbreitung zu finden.(126) Für die Richtigkeit der Behauptung spricht, daß der Code nicht mehr nur Computerfachleuten zur Selbstdarstellung dienen kann, sondern eine ganze Reihe beruflicher Sparten mit einbezieht. Auch beim Geekcode reicht die Bedeutung der einzelnen Buchstaben von der Ausbildung über die politischen Ansichten bis hin zur Einstellung zum Sex. Der hauptsächliche Unterschied zwischen beiden Codes äußert sich vor allem darin, daß die politische Einstellung im Gothcode gar nicht abgefragt wird, wohingegen äußere Erscheinung und Musikgeschmack eine größere Rolle spielen.

Artikel können auch auf anderen Wegen individuelle Wendungen erhalten. Möglichkeiten bestehen in der Gestaltung und der Wahl der E-Mail-Adresse sowie der Benutzung eines Pseudonyms. In alt.vampyres wurden diese Möglichkeiten durchgespielt. Die Pseudonyme dienten in einem Fall sogar dazu, unterschiedliche Rollen einzunehmen. Ein Beispiel, das nicht in der Stichprobe enthalten ist, besteht darin, den Artikel durch ein Bild des Autors zu ergänzen. Dazu wird das Bild komprimiert und der Inhalt der Bilddatei in den Kopfzeilen des Artikels untergebracht. Die Größe des Bildes ist mit 48 zu 48 Pixeln vorgegeben und erreicht bei einer Standardauflösung auf dem Bildschirm von 1024 zu 768 Pixeln etwa Daumennagelgröße. Die Bildinformation zeigt sich daher recht beschränkt. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Verwendung des Verschlüsselungsprogramms PGP (Pretty Good Privacy) (z.B. sce/96, av/1820). Neben der Benutzung zur Verschlüsselung von Texten kann PGP auch zur Signierung von Texten verwendet werden: Es erlaubt eine digitale, fälschungssichere Unterschrift. Im Unterschied zur Verwendung von Pseudonymen, des Gothcodes oder der Beigabe eines Fotos signalisiert die Verwendung von PGP jedoch weniger Individualität als vielmehr Authentizität. Der Zweck von PGP besteht darin, daß Empfänger prüfen können, ob Mitteilungen tatsächlich von den angegebenen Autoren stammen und auf dem Weg nicht verändert wurden.

Der Einsatz des Jargons und die Verwendung von Gothcodes haben gemeinsam, daß sie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisieren. Der Unterschied besteht darin, daß der Bezugspunkt des Jargons im Netz selbst zu suchen ist, und der Gothcode Kriterien transportiert, die außerhalb des Netzes gelten. Die Gründe, den Jargon zu lernen und anzuwenden, lassen sich nachvollziehen: Es scheint reizvoll, sich die Aura der Erfahrung zu geben. Demgegenüber halte ich die Auskunftsfreude, die der Gothcode auch in intimen Bereichen verlangt, für um so erstaunlicher, als die entsprechenden Fragen tatsächlich beantwortet werden. Daher können der Gothcode und seine Artverwandten als eine Reaktion auf die zunehmende Unübersichtlichkeit und Segmentierung des Usenet interpretiert werden. Je größer das Usenet wird, und je unterschiedlicher die Lebensumstände der einzelnen Nutzer ausfallen, desto weniger bedeutet die zufällige Gemeinschaft, die sich im Interesse an einem Thema ausdrückt, auch tatsächliche Gemeinsamkeit. Der konkrete Nutzen solcher Codes könnte dann unter anderem darin bestehen, ihn als ,,a litmus test for dating``(127) zu verwenden.

Zwar ergibt sich damit zumindest für den Gothcode ein mögliches Motiv, aber die ähnlich bemerkenswerte Gestaltung einiger Signaturen können damit nicht erklärt werden. Die Artikel von Sableagle in alt.vampyres enthalten z.B. die Ascii-Zeichnung eines Adlers (s. z.B. av/1081). Da weder Gothcode noch Ascii-Zeichnung beziehungsweise die Signatur überhaupt für die Kommunikation über das Usenet notwendig sind, müssen die Motive für die Sorgfalt, die auf sie angewendet wird, noch an anderer Stelle gesucht werden.

Als Ausgangspunkt erscheint mir das Mißverständnis des Gedichts ,,ever have one of....`` (av/2029) in alt.vampyres geeignet (s. Abschnitt 3.2.2.). Den Beteiligten kann unterstellt werden, daß sie schon länger miteinander über das Usenet Kontakt halten. Das würde ihnen erlauben, die Artikel der anderen Autoren in der Regel richtig einzuschätzen, und ein Mißverständnis sollte nicht aus bloßer Unkenntnis der anderen Verfasser auftreten. Die Autorin ist durch die Fehleinschätzung der Leser, der Text enthalte konkrete Überlegungen zum Selbstmord, gezwungen klarzustellen, daß die Mitteilung als ein ,,weird style poem`` (av/2383) gedacht war. Ihre Bezeichnung ist in mehrfacher Hinsicht gerechtfertigt. Die Mitteilung enthält keine expliziten Hinweise, daß es sich um ein Gedicht handeln könnte. Formale Rücksichten, die Einteilung in Strophen oder ein Versmaß, sind nicht erkennbar. Als Prosagedicht verläßt die Mitteilung den Rahmen, der durch die anderen Gedichte in der Nachrichtengruppe gesetzt wird. Insofern erscheint es ver - rückt (weird).

Das ist es noch aus einem anderen Grund. Texte geben durch die Art ihrer Präsentation Hinweise auf ihre Einordnung. Mit dem materiellen Träger eines Textes, sei es ein Flugblatt, eine Buchseite, ein Schmierzettel, ergeben sich Indizien für die Interpretation. Durch die Abwesenheit des Trägers erhalten die Mitteilungen des Usenet eine besondere Ambivalenz. Hinzu kommt, daß die Art der Darstellung - Farbgebung und Type - nicht von den Autoren beeinflußt werden kann, sondern allein im Ermessen der Leser liegt.(128) Was der Ansatz der ,,reduced social cues`` nahelegt, daß Gestik, Mimik, soziale Situation und persönliche Erscheinung der Sprecher für den Empfänger einer Mitteilung als Einordnungskriterien entfallen, wird so noch verstärkt. Diese Vieldeutigkeit berührt auch die Autoren: Die eigene individuelle Sicht scheint kaum mehr vermittelbar, und die Verfasser selbst werden zu Schemen.

Neben die unvermeidliche Mehrdeutigkeit von Mitteilungen treten zwei weitere Phänomene. Zum einen behindert die immer gleiche Anmutung von Artikeln - Kopf und Text, Zitat und Mitteilung - die Wahrnehmung einzelner Autoren, weil sie die Unterschiede zwischen ihnen nivelliert. Die Masse der Artikel und Autoren erschwert es dann zum anderen noch einmal, aus dieser Menge hervorzutreten.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich drei Motive für eine individuelle beziehungsweise überindividuelle Abgrenzung, wie sie sich in den Signaturen niederschlagen. Signaturen können die Ambivalenz der Texte nicht einschränken. Als eine Art vorgefertigter Stempel, der unter jeden Usenet-Artikel gedrückt wird, sind sie dafür zu unflexibel. Ihre Funktion besteht eher darin, die Autoren gerade dann präsent zu halten, wenn sie zu verschwimmen drohen. Sie sorgen für die Kontur der Autoren, die sich in einem Artikel nicht ohne weiteres vermitteln läßt.

Die vorgegebene Einförmigkeit der Artikel durchbrechen Signaturen und setzen an die Stelle linear verlaufender Zeilen ein gestalterisches Element. Da in den Signaturen in der Regel keine Rücksicht auf den Kontext einer Nachrichtengruppe genommen wird, können sie zudem noch einen thematischen Kontrapunkt setzen. In der Form eines immer gleichen Stempels nehmen sie dann den Charakter eines Markenzeichens an: In einer im Fluß befindlichen Umgebung gestatten sie es, den Wiedererkennungswert eines Autors zu erhöhen. Signaturen bestehen aber letztendlich selbst nur aus Text, daher drängt sich der Vergleich auf, daß sie eine Art Münchhausen'scher Zopf darstellen, an dem das Individuum sich aus dem Textsumpf zu ziehen sucht.


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