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6. Schluß

 

Das Usenet wurde als ein Medium vorgestellt, dessen Konstruktion bestimmte Eigenschaften aufweist, die sich in der Benutzung bemerkbar machen. Mit der herkömmlichen Einordnung als ein asynchrones und interaktives Medium wird die Besonderheit des Usenet gegenüber anderen Medien des Internet nicht deutlich. Daher habe ich den Vorschlag gemacht, die Topologie des Kommunikationsnetzes, das ein Medium aufspannt, als zusätzliches Kriterium zu berücksichtigen. Demnach muß das Usenet als ein verteiltes Medium charakterisiert werden. Während in einem zentralisierten Kommunikationsnetz vom zentralen Knoten eine Kontrolle über das ganze Netz gegeben ist, wird die Möglichkeit zur Kontrolle in einem verteilten Netz auf den einzelnen Knoten beschränkt. Auf Grund dieser Eigenschaft erlaubt das Usenet nicht nur eine Vielfalt von Äußerungen, sondern erfordert bestimmte Verhaltensweisen, die sich in seiner Erscheinung niederschlagen.

Ziel der Arbeit war es, den Ansatz des sozialen Paradox' der Technik am Usenet zu veranschaulichen. Das verbindende und das trennende Moment der Technik, die mit dem sozialen Paradox gleichberechtigt zusammengefaßt werden, haben als Gemeinsames die Grenze. Als Fragestellung ergab sich, wie welche Grenzen im Usenet zustande kommen. Es galt daher, die Grenzen, die im Medium gezogen werden, sichtbar zu machen. Die spezifische Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Usenet entsteht dadurch, daß es aus Text besteht. Gegossen in die immer gleiche Form der Artikel mußten Mitteilungen von Steueranweisungen für die Software getrennt werden. Außerdem mußte dem Unterschied von Verhaltensweisen, die das Medium berücksichtigen und solchen, die als gruppenbezogen zu klassifizieren waren, Rechnung getragen werden.

Das Usenet gibt mit den Hierarchien eine thematische Ordnung vor. Darin wird eine Nachrichtengruppe durch einen Rahmen aus Name und Beschreibungszeile eingegrenzt. Innerhalb des Forums legen die Artikel den Kontext für das Thema fest; das betrifft z.B. den Umgang mit dem Thema und den Blickwinkel, aus dem es betrachtet wird. Während der Rahmen festgelegt ist, befindet sich der Kontext im Fluß. Der Kontext wird durch einen Konsens verankert, der in den Foren spätestens bei einer Abweichung sichtbar wird. Die Debatten, die sich entwickelten, wenn der Konsens verletzt wurde, machten deutlich, daß Nachrichtengruppen mindestens zwei verschiedene Diskurse beherbergen. Der erste ist dem durch Rahmen, Kontext und Konsens festgelegten Thema gewidmet, und der zweite kann als eine Art Fehlerprotokoll angesehen werden, mit der einer Abweichung vom Konsens begegnet wird. Dabei kann die Grenze, die mit dem Konsens gezogen wird, nicht als ein Hinweis auf die Existenz einer Gruppe gelten. Statt dessen dient der Konsens als ein intersubjektives Maß für die Qualität einer Nachrichtengruppe als Übertragungskanal.

Das Usenet besteht aus Text. Die Frage, ob bekannte Muster sozialer Abgrenzung, die auf einer sprachlichen Ebene funktionieren, auch im Usenet anzutreffen sind, drängte sich daher auf. Die Stichprobe ließ keinen solchen Schluß zu. Der Einsatz des Unterschieds von elaboriertem und restringiertem Code wird dadurch entwertet, daß Englisch als lingua franca des Usenet fungiert. Ein für das Usenet spezifischer Jargon ist in der Literatur zwar bekannt, konnte jedoch in der Stichprobe nicht nachgewiesen werden. Ein gruppenspezifischer Jargon, z.B. in alt.culture.bullfight, wird nur für eine genauere Beschreibung, nicht jedoch zur Abgrenzung eingesetzt. Der Blick auf die Gestaltung der Texte rückte die Signatur in den Mittelpunkt. Hier zeigten sich jedoch in erster Linie Tendenzen einer individuellen Selbstdarstellung. Die Verwendung bestimmter Codes in den Signaturen ließ sich als Darstellung eines bestimmten Lebensstils interpretieren, mit der auf die zunehmende Segmentierung des Usenet reagiert wird.

Das Usenet hebt die festgelegte Rollenverteilung von Sender und Empfänger, wie sie im Bereich der herkömmlichen Medien bekannt ist, auf. Die sich damit einstellenden Phänomene wurden mittels der Metaphern des Spektrums, des Kaleidoskops und der Kanalisierung zusammengefaßt und beschrieben. Das Spektrum erfaßt die verschiedenen Standpunkte - sowohl inhaltlicher als auch formaler Natur -, die zu einem Thema eingenommen werden. Mit dem Kaleidoskop wurde auf die beständige Veränderung von Nachrichtengruppen reagiert, weil damit eine kontinuierliche inhaltliche Veränderung einhergeht und der Benutzer gezwungen ist, diese zu einem Muster zu fixieren. Schließlich wurde die Metapher der Kanalisierung verwendet, um die Tendenz zu kennzeichnen, sowohl die Menge der Artikel als auch die thematische Breite in einem Forum in Grenzen zu halten. Alle drei Phänomene weisen auf ein grundsätzliches Problem der Orientierung im Usenet hin. Begegnet wird dem Problem durch die Nachrichtenprogramme, die Mitteilungen ordnen. Die Benutzer können sich darüberhinaus mit der Zusammenstellung von Nachrichtengruppen und der Verwendung von Filtern auf einer individuellen Ebene Übersicht verschaffen. Demgegenüber stellen die Deklaration eines Artikels nach den Gepflogenheiten eines Forums und die Kanalisierung überindividuelle Handlungsweisen dar. Trotzdem kann daraus nicht auf das Dasein einer Gruppe geschlossen werden, denn einmal mehr wird damit der Charakter der Nachrichtengruppe als Übertragungskanal betont.

Das Raster für die Zuordnung verschiedener Inhalte in den Foren wurde um einen dritten Diskurs ergänzt. Darunter wurden solche Mitteilungen eingeordnet, die sich den Beziehungen unter den Teilnehmern einer Nachrichtengruppe widmen. Damit wurde eine weitere Differenzierung ermöglicht. Werden jene Autoren, die den Rahmen eines Forums berücksichtigen, zu einer ephemeren Gruppe zusammengefaßt, können die am dritten Diskurs Beteiligten als eine Untermenge, nämlich als virtuelle Gemeinschaft, begriffen werden. Mit dieser Festlegung werden zwei Probleme gelöst: Erstens wird festgelegt, was eine virtuelle Gemeinschaft ist, und zweitens wird ein Indikator für diese Gruppe benannt. Die Festlegungen waren notwendig, weil die Literatur eine einhellige Meinung, was der Terminus bezeichnet und wie die Existenz einer solchen Gruppe nachgewiesen werden kann, vermissen läßt.

Grenzen, so hat sich gezeigt, werden im Usenet auf vielerlei Art gezogen. Sie verlaufen sowohl zwischen den Hierarchien und Nachrichtengruppen als auch innerhalb der Foren. Zum großen Teil dienen sie dem Ausgleich der Unzulänglichkeiten des Mediums, und ein kleiner Teil wird dazu verwendet, Gruppen kenntlich zu machen. Dieser Befund kann als Beleg für die im Usenet anzutreffende Vielfalt angesehen werden. Der Ansatz des sozialen Paradox' der Technik konnte danach in der Diskussion um die Verbindung von Usenet und Demokratie veranschaulicht werden. Dabei zeigt sich, daß eine Gleichsetzung von Usenet und Demokratie ohne Substanz ist. Das Usenet stärkt noch nicht einmal die Demokratie, sondern nur die Position des Individuums, weil es dem Einzelnen möglich wird, auch einen demokratischen Konsens ohne Gefahr von Sanktionen zu unterlaufen. Die quasi-demokratischen Administrationsregeln im Usenet scheinen zudem der Mehrheit unbeschränkte Rechte und den Minderheiten kaum Schutz einzuräumen. Nur die technische Konstruktion des Usenet stellt sicher, daß Minderheiten nicht mundtot gemacht werden können: Den vereinheitlichenden Bestrebungen der Mehrheit steht die Garantie partikularer Wirkungsmöglichkeiten gegenüber,

Wurde der pessimistischen Erwartung einer ,,Desinformationsgesellschaft``(160) und der optimistischen Hoffnung auf ,,Weltharmonie``(161) in der Einleitung mit Skepsis begegnet, so müssen beide in bezug auf das Usenet als Zerrbilder bezeichnet werden. Natürlich dient das Netzwerk auch der Desinformation, aber gleichzeitig drängt es die Benutzer, ein anderes Verhältnis zur Information zu entwickeln, weil sie diese selber bewerten müssen. Und natürlich sorgt das Usenet auch für Harmonie: Es gehört zur ,,digitalen Landschaft``, in der eine ,,neue Generation`` sich ,,von alten Vorurteilen`` befreien kann.(162) Abgesehen davon, daß schon die mangelnde Wertschätzung bewährter Urteile, die es erlauben, sich schnell zu entscheiden - eben Vorurteile - mißtrauisch machen sollte, hat sich gezeigt, daß im Usenet Konsens und Dissens gleichermaßen vertreten sind.

Interessanter als die Zurückweisung schaler Platitüden ist ein Blick auf jene Themen, die in dieser Arbeit teilweise angedeutet wurden, aber nicht ausgeführt werden konnten. Es wäre z.B. wünschenswert, zuverlässige Zahlen für das Usenet zu gewinnen. Die Arbeit von Reid (163) kann fortgeführt und weiterentwickelt werden. Zugleich wäre die Entwicklung von Indikatoren für Nachrichtengruppen von Interesse. Mit ständig wachsenden Teilehmerzahlen und immer mehr Foren nimmt die Vielfalt im Usenet zu. Das Problem der Orientierung sowohl auf Sender- wie auf Empfängerseite wird dadurch drängender. Welche Lösungen entwickeln sich oder sollten entwickelt werden?

Ein ganzer Fragenkatalog, etwa zur Authentizität von Identitäten oder nach dem Wesen der reinen Rezipienten, ließe sich noch hinterherschicken. Aber die in meinen Augen spannendste Frage, die hier kaum angedeutet werden konnte, bezieht sich auf die seltsame Form des Wissens, die in den FAQs des Usenet gesammelt wird. Die Kataloge erfüllen in den Nachrichtengruppen die Funktion, deren Kontext abzustecken. Das in ihnen aufbereitete Wissen geht dabei über jede Form des Alltagswissens hinaus, indem es z.B. die bekannten europäischen Vampire um die asiatischen und afrikanischen Varianten ergänzt. Trotzdem stellen FAQs keine wissenschaftlich koschere und damit zitierfähige Quelle dar. Ihre Entstehung können sie scheinbar einem kollektiven Prozeß verdanken, wobei das Wissen zu einem bestimmten Thema aus verschiedenen Quellen zusammengetragen wird. Zudem liegen die FAQs nicht nur auf Archiv-Servern bereit, sondern werden, solange sie gepflegt werden, regelmäßig im Usenet veröffentlicht und damit aktiv verbreitet. Sich dieses Themas aus wissenssoziologischer Sicht anzunehmen, halte ich für lohnenswert.

Die Anregungen sind nicht ganz uneigennützig. Erst in weitergehenden Arbeiten könnte sich zeigen, ob die hier entwickelten Begriffe tragfähig sind. Hier haben sie ihren Zweck, das soziale Paradox der Technik zu veranschaulichen, denke ich, erfüllt.


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