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4.1. Rahmen, Kontext, Konsens

 

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Nachrichtengruppen lassen sich in einer Gegenüberstellung verdeutlichen. Die Frage, wozu die einzelnen Foren vorwiegend genutzt werden, ließe sich wie folgt beantworten:

alt.culture.bullfight      Information     
alt.vampyres Unterhaltung
soc.culture.egyptian Meinungsaustausch
sci.anthropology Diskussion

Eine solche Zuordnung muß notwendigerweise überspitzt erscheinen, ist aber auf der Grundlage der Beschreibungen gerechtfertigt. Die klare Abgrenzung kann hier allerdings nur dadurch erreicht werden, daß die unterschiedlichen Aspekte, die in einer Nachrichtengruppe auftreten, zugunsten eines einzigen Merkmals vernachlässigt werden; letztlich treten die genannten Merkmale in allen Beschreibungen zutage. Der einzige Grund für diese Gegenüberstellung besteht in der Möglichkeit, ohne große Umstände die Unterschiede zwischen den einzelnen Nachrichtengruppen zu veranschaulichen. Daraus ergeben sich die Fragen danach, wie sich diese Unterschiede äußern und welche Gründe dafür benannt werden können.

Jede Nachrichtengruppe zeichnet sich durch einen Rahmen aus. Festgelegt wird dieser Rahmen vor allem durch den Namen der Gruppe, die Einordnung in der Hierarchie des Usenet und die Beschreibungszeile. In seltenen Fällen wird auch auf die ursprüngliche Charta (112) der Nachrichtengruppe verwiesen (z.B. sce/1047). Der Rahmen bestimmt das Thema der Nachrichtengruppe und greift unter Umständen auf die Art und Weise, wie es zu behandeln ist und schließlich auf den Blickwinkel, unter dem das Thema betrachtet wird, vor. An welcher Stelle die jeweiligen Festlegungen auftreten, scheint nicht vorhersagbar. Während die Beschreibungszeile zu alt.culture.bullfight von vornherein klarmacht, daß das Forum dem Verständnis und der Wertschätzung des Stierkampfs dient, verrät die Beschreibungszeile von alt.vampyres kaum etwas über die Einstellung, die dem Thema Vampire in der Nachrichtengruppe entgegengebracht wird. Die Einordnung in die Hierarchie des Usenet spielt in beiden Fällen kaum eine Rolle. Die Plazierung des Stierkampfs in alt.culture zeigt nur, daß die Corrida eher unter einem kulturellen Aspekt gesehen wird, als etwa unter dem des Tierschutzes, wie es eine Einordnung unter talk.politics.animals nahelegte. Demgegenüber scheint die Einordnung von Anthropologie im wissenschaftlichen Zweig des Usenet das Versprechen der Beschreibungszeile, alle Aspekte des Studiums der Menschheit einzuschließen, zumindest in der Weise einzugrenzen, daß Rücksicht auf die Eigenarten des wissenschaftlichen Diskurses angebracht ist. Die Bedeutung des Namens erschließt sich am ehesten, wenn Alternativen zur tatsächlichen Benennung erwogen werden. Statt unter ,,bullfight`` hätte das Thema Stierkampf auch unter der Bezeichnung ,,corrida`` oder ,,toreo`` abgehandelt werden können. Das Ausweichen auf spanische Fachbegriffe hätte möglicherweise zur Folge gehabt, daß die Assoziation zur Tierquälerei oder zum US-amerikanischen Rodeoreiten (leider nicht in der Stichprobe) nicht ohne weiteres hergestellt werden könnte. Das Publikum der Nachrichtengruppe ließe sich dann auf eine Gruppe eingrenzen, in der solche Bezeichnungen ihre Signalwirkung entfalten können. Die Argumentation im FAQ zu alt.vampyres, weshalb in der Bezeichnung ,,y`` statt ,,i`` verwendet wird, wurde schon zitiert (s. dort). Dort diente die Schreibweise auch dazu, das mögliche Publikum einzugrenzen. Der Rahmen kanalisiert also vorwiegend ein Thema, kann aber bereits darüber hinaus gehen.

Eine Festigung erfährt der Rahmen durch den Kontext, der für eine Nachrichtengruppe durch die Artikel gebildet wird. Darauf verweist die wiederholte Ermahnung in den einführenden Texten in news.announce.newusers, das Geschehen in einer Nachrichtengruppe zu berücksichtigen.(113) Der Kontext läßt sich dann zum einen als eine Interpretationshilfe, wie und in welcher Breite das Thema aufgefaßt wird, verstehen. Zum anderen legen die Artikel auch Antworten auf eventuelle Stilfragen nahe. Hierzu gehört, ob in einer Nachrichtengruppe die Rücksicht auf die Netiquette eingefordert wird, ob Rechtschreibung und Ausdrucksweise eine Rolle spielen und auch, ob der Tonfall persönlich oder distanziert ausfällt. Der Kontext kann durch einen Katalog häufig gestellter Fragen ergänzt werden. Was der Rahmen möglicherweise nur andeutet, etwa den Blickwinkel unter dem ein Thema behandelt wird, grenzt der Kontext endgültig ein. Bleibt im Fall von alt.vampyres das Thema durch den Rahmen nur notdürftig skizziert, und verwirrt selbst noch die Lektüre der Artikel den Leser, räumt erst das FAQ mögliche Mißverständnisse aus. Auch die Stilfrage erschließt sich erst über die Lektüre. In der Beschreibung von sci.anthropology konnte von einer eher argumentativen Prägung der Artikel und einem Zurücktreten des persönlichen Kontakts hinter das behandelte Thema berichtet werden. Dagegen nahm sich das Gebaren in alt.vampyres zum Teil sehr persönlich aus und zeigte sich eher mit dem Zweck der Unterhaltung verbunden.

Anstelle einer inhaltlichen Trennung von Rahmen und Kontext ließe sich die Linie zwischen beiden Begriffen auch entlang des sozialen Zustands, den sie spiegeln, ziehen. Der Rahmen zeigt sich dann als das Ergebnis eines Diskussionsprozesses, der in verschiedenen Formen (Einordnung, Gruppenname, Beschreibungszeile, Charta) fixiert wurde. Der Kontext muß demgegenüber notwendigerweise fließend erscheinen, da eine Nachrichtengruppe einem steten Wandel unterliegt, schon insofern, als beständig Artikel neu hinzukommen bzw. gelöscht werden. Die Diskussionen um Tierquälerei in alt.culture.bullfight, die massiven Cross-Postings in alt.vampyres und die Auseinandersetzung um die Evolutionstheorie in sci.anthropology bestätigen diese Einschätzung.

Die Eingrenzungen, die über Rahmen und Kontext vorgenommen werden, sind in keiner Weise selbstverständlich; das zeigt das Beispiel soc.culture.egyptian. Nicht nur das Thema der Nachrichtengruppe scheint weit gefaßt, auch die Einordnung in die Hierarchie liefert keinen Anhaltspunkt für eine inhaltliche Einschränkung. Über das ,,etc.`` in der Beschreibungszeile wird die Thematik sogar in der Weise ausgeweitet, daß sie theoretisch jeden Artikel zuläßt, der mit Ägypten assoziiert werden kann. Die Versammlung der unterschiedlichsten Themen in dieser Nachrichtengruppe liefert den Beweis, daß davon praktischer Gebrauch gemacht wird. Nun stellen weder der Rahmen noch der Kontext einen Imperativ dar, der zu befolgen wäre. Die eben angeführten Beispiele der Mißachtung der Beschreibungszeile oder das Auftreten von Cross-Postings zeigen, daß über beide Momente hinsichtlich der Thematik und des Umgangs nur ein fragiler Zustand erreicht werden kann. Den im Fluß befindlichen Kontext am Zerfließen zu hindern und ihm Stabilität zu verleihen, bedarf in einer Nachrichtengruppe offenbar bestimmter Voraussetzungen und Maßnahmen.

Über Rahmen und Kontext hinausgehende Abgrenzungen entstehen in den Diskussionen, den Gesprächen, und werden deutlich in der Art eines Konsens. In allen vier Nachrichtengruppen zeigte sich an bestimmten Punkten eine gewisse Übereinstimmung. In alt.culture.bullfight wurde sie im Moment der Provokation durch den Tierschützer deutlich: Die Gruppe solle eben nicht der Erörterung des Tierschutzes dienen. In diesem Fall ist der Konsens bereits in der Beschreibungszeile explizit formuliert. Beim Thema Vampire wurde der Konsens durch die Flut der Artikel verdeckt. Eine ausdrückliche Formulierung findet sich erst im FAQ. Als ein Beispiel kann der Umgang mit Neulingen gelten, der im Forum für Diskussion sorgt und im FAQ unter Punkt zwei angesprochen wird (av/1346). In soc.culture.egyptian zeigte sich eine kleine Gruppe darin einig, daß religiöse Fragen streifende Themen nach Möglichkeit ausgespart werden sollten. An die Stelle der eher inhaltlichen Abgrenzungen trat in sci.anthropology in der Auseinandersetzung um die Evolutionstheorie eine mehr formale Kritik am Argumentationsstil der Gegner dieser Theorie. In diesen Fällen mag es aus zwei Gründen fragwürdig erscheinen überhaupt von Konsens zu reden. Zum einen kann eine Übereinstimmung, selbst für den Fall, daß sie formuliert wurde, verdeckt sein. Zum anderen können diejenigen, die eine Übereinstimmung erzielt haben, zwar den Anspruch der Gültigkeit für die Nachrichtengruppe erheben, aber der Anspruch muß auch durchgesetzt werden.

Die Maßnahmen, welche zur Durchsetzung einer Übereinstimmung eingesetzt werden, sind vielfältig:

  • Abweichende oder gar provozierende Äußerungen werden mißachtet;
  • Mailbomben (114) werden angedroht;
  • gegen einen Mißbrauch des Forums wird protestiert;
  • die Abweichenden werden lächerlich gemacht;
  • gegen die Dissentierenden wird argumentiert.

Die Gemeinsamkeit dieser Maßnahmen besteht darin, daß das Forum als solches davon unberührt bleibt. Dagegen laufen Überlegungen zur Moderation einer Nachrichtengruppe, ihre Aufspaltung oder der Rückzug auf eine Mailing-Liste auf eine Veränderung des Forums hinaus. Beide Arten von Maßnahmen zielen auf eine Abwehr bestimmter Diskussionsinhalte oder -formen. Eine andere Form der Abwehr kann in der rein zahlenmäßigen Steigerung solcher Artikel gesehen werden, die den Konsens bestätigen. In alt.vampyres spiegelte sich diese Tendenz in dem Verhältnis der Autoren zur Menge der Artikel: 1,7% der Autoren zeichneten 33,2% der Mitteilungen. Dagegen verhallte ein entsprechender Aufruf in soc.culture.egyptian: ,,Post some stuff!!!`` (sce/1099). Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß die Steigerung der Artikelzahl als Maßnahme bewußt ergriffen werden kann.

In den vier Nachrichtengruppen wurde der Konsens und damit einhergehend die Abwägung von Vorkehrungen zu dessen Durchsetzung immer dann deutlich, wenn von der Übereinstimmung abgewichen wurde. Diese Beobachtung erlaubt die Einschätzung, daß neben den Diskurs, auf den eine Nachrichtengruppe durch Rahmen, Kontext und Konsens festgelegt wird, ein zweiter tritt. Dabei umfaßt der zweite Diskurs nur die Erörterung von Schutzmaßnahmen für den ersten.

Es bleiben dann die Fragen, welche Bedeutung der Konsens in einer Nachrichtengruppe hat und warum er durchgesetzt werden sollte. Hier kann eine Analogie zu Hilfe genommen werden, die innerhalb des Usenet üblich ist: der Signal-Rausch-Abstand.(115) Der Begriff stammt aus der nachrichtentechnischen Definition von Kommunikation, wo das Verhältnis die meßbare Qualität eines Übertragungskanals bezeichnet.(116) Der Gebrauch des Begriffs in bezug auf eine Nachrichtengruppe wandelt ein Forum in einen Nachrichtenkanal. Rahmen, Kontext und Konsens stecken dann das Feld ab, innerhalb dessen eine Mitteilung als Signal gilt. Solche Artikel, die das abgesteckte Feld verlassen, gelten als Rauschen. Die Bedeutung des Konsens stellt die Analogie unmißverständlich klar: Er wird benötigt als ein intersubjektives Maß für die Qualität einer Nachrichtengruppe als eines Übertragungskanals. Der damit einhergehende Zweck verweist weniger auf die Verbindung der Teilnehmer zu einem sozialen Gebilde, als auf die Vorstellung eines Optimums für die Kommunikation. Der Konsens zeigt demnach nicht das Bestehen einer Gruppe oder Gemeinschaft an, sondern entwickelt sich als eine Reaktion auf die Unzulänglichkeit des Mediums.


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