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3.1. Methodisches Vorgehen

 

Es gibt für die Arbeit mit dem Usenet weder in der Soziologie noch in der Kommunikationswissenschaft einen Kanon von Methoden, der eine Anleitung geben könnte. Der übersichtliche Fundus an Literatur zum Usenet gibt zwar Anregungen zum Umgang mit der Stichprobe und legt bestimmte Fragen nahe, aber in den Herangehensweisen stechen eher Differenzen als Gemeinsamkeiten hervor. Unmittelbar im Zusammenhang mit der Näherungsweise stehen Unklarheiten, die von einer fehlenden Charakterisierung, um was für eine Art von Kommunikation es sich auf dem Usenet eigentlich handelt, bis zu einer ausstehenden Definition, was ein Artikel im Usenet darstellt, reichen.

Die Soziologie verwendet zwei Verfahren, die zumindest über eine Analogie Hinweise auf ein angemessenes Vorgehen geben können. Bei den Verfahren handelt es sich um die teilnehmende bzw. nicht-teilnehmende Beobachtung und die Textanalyse. Im ersten Fall ist die Diskrepanz zwischen den beobachteten Phänomenen augenfällig: In dem klassischen Beispiel von Whytes ,,Street Corner Society``, ist eine Gruppe von Leuten dem Beobachter direkt ausgesetzt. Im Usenet stehen dem Beobachter nur die über Massen von Text vermittelte Kommunikation zur Verfügung. Die einzigen Anhaltspunkte für eine Einschätzung der Kommunikation und ihrer Auswirkungen müssen über die Texte erschlossen werden. Die Arbeit beruht auf ,,nicht-teilnehmender Beobachtung``, weil ich mich weder in die laufenden Diskussionen eingeschaltet, noch Kontakt zu einzelnen Autoren aufgenommen habe. Zudem entfallen durch die Beschränkung auf das Usenet die Möglichkeiten, sich in das Geflecht der Beziehungen zu begeben, das außerhalb des Usenet, etwa über elektronische Post und IRC, verstärkt werden könnte.

Die Analogie zur Textanalyse läßt sich etwas diffiziler an. Sicher ist, daß es sich bei der Kommunikation im Usenet nicht um eine Form gesprochener Kommunikation handelt. Aber stellt sie damit automatisch eine schriftbasierte Form der Kommunikation dar? Die mit schriftbasierter Kommunikation, sei es z.B. in Privat- oder Geschäftsbriefen, einhergehende Formalisierung wird nur zum Teil in automatisierter Form übernommen, insofern, als die Kopfzeilen der Mitteilungen Datum, Absender und Betreff enthalten. Der andere Teil - die Beachtung von Rechtschreib- und Interpunktionsregeln - fehlt. Dadurch erhalten die Artikel im Usenet einen eher informellen Charakter. Das Widerstreben, im Fall des Usenet von einer schriftbasierten Kommunikationsform zu sprechen, wird noch dadurch verstärkt, daß mit der Schrift das Materielle einherging.  Zu ihrer Fixierung wurden Tonscherben und Papyri, Pergament und Papier verwendet. Das phantomatische Moment, welches die Schrift auf dem Computer erhält, tritt auf dem Usenet durch die Abwesenheit von Streichungen im Text hervor, die zum informellen Charakter einer Mitteilung beitragen.(74) Werden zudem Mitteilungen in Betracht gezogen, die nur aus einem Satz bestehen, oder gar unvollständige Sätze enthalten und nur durch den Zusammenhang mit einem vorher zitierten Abschnitt einen Sinn ergeben, sowie die Verwendung solcher Zeichen, die in der Schriftsprache kein Äquivalent haben, die sogenannten ,,Emoticons`` (75), so liegt der Schluß nahe, daß es sich hier um einen Zwitter aus gesprochener und schriftlicher Kommunikation handelt.(76) Dem Großteil der Mitteilungen kommt die Vorstellung am nächsten, daß eine Gruppe von Leuten, sei es im Café oder auf einem Kongreß, sich dem Zwang unterwirft, ihre Unterhaltung oder ihre Diskussion in der Weise zu führen, daß die Beiträge auf Zettel notiert und herumgereicht werden. ,,Der Gebrauch von geschriebenen Zeichen im Kontext des neuen Mediums Internet führt zu einer Veränderung im System der Zeichen insgesamt. Die Übergänge zwischen Sprache und Schrift werden fließend,`` schreibt Sandbothe.(77) Konsequenterweise ließe sich dann im Gegensatz zur Schriftsprache von einer Sprechschrift sprechen, in dem Sinne, daß die Schrift hier eher den Regeln des Sprechens als denen der schriftlichen Äußerung folgt.

Die Erwägung der Rolle der Schrift zieht die Widerspenstigkeit des Materials in Betracht, die insofern Einfluß auf das Vorgehen hatte, als die Artikel der Stichprobe nicht ausgedruckt, sondern in ihrer elektronischen Form belassen wurden. Das Problem der Art der Kommunikation kann nur zum Teil dadurch berücksichtigt werden, bestimmte Maßstäbe, wie formale Korrektheit, die für die schriftliche Kommunikation gelten, anders anzuwenden. Die Analogie zur Textanalyse bringt die Versuchung mit sich, die Mitteilungen als einen schriftlichen Text zu lesen, was ihrem Charakter nur bedingt entspricht.

Auch die Festlegung dessen, was ein Artikel darstellt, wird von Unwägbarkeiten begleitet. Handelt es sich um eine Information, um eine Mitteilung, um einen Gesprächsbeitrag? Und wo wäre dann ein Artikel einzuordnen, der als Text das Wort ,,test`` enthält? Eine rein technische Definition, die einen Artikel als eine Datei mit den Teilen Kopf und Text beschreibt (78), wirkt in diesem Zusammenhang zwar unbefriedigend, faßt jedoch den gemeinsamen Nenner aller Artikel zusammen. Alle anderen Momente können für einen bestimmten Artikel nur aus seinem Kontext erschlossen werden.

Ein Artikel kann einen Bezug zu einem anderen Artikel durch ein Zitat, oder die Wiederaufnahme der ursprünglichen Betreffzeile - oft mit einem vorangestellten ,,Re: `` - herstellen. Das Programm vermerkt den Bezug in einer Kopfzeile des Artikels mit der Bezeichnung ,,References:``. Die Programme können in der Regel anhand dieser Zeile die Artikel in eine Reihenfolge bringen, welche die einzelnen Bezugnahmen nachstellt. Ähnlich wie im Fall des Artikels kann eine konkrete Einordnung einer solchen Reihe als Diskussion oder Gespräch nur über den Inhalt erfolgen. Aber das Problem, welches sich hier stellt, besteht auch darin, daß weder ein Zitat noch die Betreffzeile und auch nicht die Zeile ,,References:`` auftauchen müssen, und Artikel trotzdem in einem eindeutigen Bezug zu anderen gesehen werden können. Der gegenteilige Fall der Bezugnahme auf Artikel, die mit dem behandelten Thema nichts zu tun haben, tritt dabei genauso auf. Eine Zuordnung der Artikel zu einem Thema kann dann nur im Gesamtkontext einer Nachrichtengruppe vorgenommen werden.

Mit diesen Bemerkungen deutet sich das Vorgehen schon an: Die einzelnen Nachrichtengruppen habe ich jeweils für sich gelesen. Dabei diente ein erster Durchgang der Orientierung: Welche Themen werden wie besprochen und wer schreibt was. Mir ging es im ersten Fall darum, ein Gefühl für den Tonfall in der Nachrichtengruppe zu entwickeln, um z.B. Ernsthaftigkeit und Scherz auseinanderhalten zu können. Die Rücksicht auf die Schreibenden sollte zeigen, ob das ungerichtete Kommunizieren - ein Autor, viele Leser - nicht zumindest zum Teil gerichtet gemeint ist: ein Autor, bestimmte Leser. In einem zweiten Durchgang habe ich das Augenmerk verstärkt auf die Beziehungen zwischen den Schreibenden gerichtet und zugleich die Eindrücke berücksichtigt, die am Rande eine Rolle zu spielen schienen, wie etwa die Verwendung von Pseudonymen.

Für die Darstellung auf den folgenden Seiten hat sich aus dem Lesen heraus ein Schema entwickelt. Die Artikel wurden nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengefaßt, um einen groben Überlick über die behandelten Themen zu geben. Eine zweite Ordnung ergab sich aus der Frage, ob Artikel aufeinander Bezug nehmen, das heißt die Diskussionen wurden in den Vordergrund gestellt. Im nächsten Schritt richtete sich der Blick weniger auf den Inhalt als auf die Beziehungen, die eventuell zwischen den Autoren in den Artikeln sichtbar werden. Am Ende sollte die Nachrichtengruppe als solche genügend charakterisiert sein, um, gestützt auf die Gleichförmigkeit des Vorgehens, einen Vergleich der verschiedenen Nachrichtengruppen zu erlauben.

Die beiden im vorigen Abschnitt erwähnten Vorhaben - der Vergleich des Usenet mit herkömmlichen Massenmedien und die Frage nach virtuellen Gemeinschaften im Usenet - bilden die Grundlage auf der die Einordnung der soziologischen Bedeutsamkeit des Usenet aufbaut.


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