Erschienen in der taz (20.03.97 S. 20 Nr. 117) und im Netpol-Digest 3 (19.03.1997)

Schulen am Netz

Einsam und verlassen, aber säuberlich aufgebaut, die Tastatur durch einen Plastikschoner geschützt, steht ein PC in einer Hamburger Grundschule in einem ansonsten kahlen Raum. Penibel sind Boxen und Maus auf den leeren Arbeitsplatz ausgerichtet. Daß der Rechner am Netz sein könnte, läßt sich nur aus dem Kabel schließen, welches unterm Tisch in der ISDN-Buchse endet. Hier präsentiert sich mehr ein Ausstellungsstück als ein Arbeitsgerät. Ein Sinnbild für das Projekt »Schulen ans Netz«: Der Rechner als ungeliebter Fremdkörper im funktionierenden Schulalltag?

Am anderen Ende der Stadt ist mehr los. Hektik macht sich breit: die Tore sollen für das Schulfest geöffnet werden. Und so drängeln die Drittklässler an die Rechner, auf denen sie gleich Urkunden ausdrucken werden. Hastig schiebt ein Neunjähriger die Maus über den Schirm, klickt hier, drückt da und überprüft die Einstellungen. Alles in Ordnung? Der Probedruck funktioniert nicht. »Wie war das? Wie war das?«, überlegt er und kaut auf den Lippen. Auf der Mattscheibe klappen wieder Fenster auf und zu und schließlich Aufatmen: Der Nadeldrucker kreischt und spuckt die erste Urkunde des Nachmittags aus.

Das Netz ist davon nur am Rande berührt: Einer der Rechner, an dem die Schüler hantieren, wurde von den 3000.- DM neu angeschafft, die Hamburg jenen Grundschulen zur Verfügung stellte, die ans Netz wollten. Der ISDN-Anschluß wurde schon im letzten Sommer gelegt, Disketten mit Netzsoftware vom Deutschen Forschungsnetz e.V. (DFN-Verein) waren ebenfalls eingetroffen, nur die ISDN-Karte harrt noch des Einbaus. Theoretisch hätte der Rechner schon längst am Netz sein und den Eltern vorgeführt werden können. Wo ist das Problem?

Der Ausbildungsstand der Lehrer genügt solchen Anforderungen noch nicht. Zwar arbeiten einige auch zu Hause mit dem PC, aber die Tücken des Computers haben sie dort schon genugsam kennengelernt, als daß sie vor der Anbindung ans Netz nicht zurückschrecken würden. Um diesen Mißstand zu verbessern und die Lehrer auf die neue Technik vorzubereiten, wurden bereits 2200 Lehrer in Seminaren des Hamburger Instituts für Lehrerfortbildung auf die Nutzung des Internet eingestimmt. Die Angebote reichen von einer Einführung in das Internet bis hin zum Aufbau eines Linux-Rechners als Server für das Schulnetz. Das Interesse ist groß, und die Seminare sind überfüllt. Da mit den Seminaren Lehrer aller Schularten und Fächer angesprochen werden sollen, divergieren die Vorkenntnisse extrem: Während die einen sich langweilen, versuchen die anderen verzweifelt, den Mauszeiger zu positionieren.

Hamburg bildet innerhalb des Projekts »Schulen ans Netz« eine Ausnahme. Ziel des Projekts ist es, bundesweit 10.000 Schulen bis zum Jahr 2000 ans Netz zu bringen. Dazu werden stufenweise die Förderungsmittel ausgeschrieben, und die Schulen können sich um eine Förderung im Rahmen des Projekts bewerben. Eine flächendeckende Versorgung kommt auf diese Weise nicht zustande. In Hamburg wurden im Rahmen der seit 1988 angestrebten »Informationstechnischen Grundbildung« fast alle weiterführenden Schulen mit Rechnern ausgestattet. Im Zuge von »Schulen ans Netz« kamen ein ISDN-Anschluß sowie ein Update auf Hard- und Software hinzu. Zusätzlich wurden 40 Grundschulen mit einem PC ausgestattet und die Fortbildung in Angriff genommen. Solche Voraussetzungen sind nicht überall gegeben. Je nach den Mitteln, die im Haushalt der Länder zur Verfügung stehen, klaffen große Lücken sowohl in bezug auf die Ausstattung als auch auf die Maßnahmen zur Fortbildung.

Vereinzelt versuchen Schulen daher eine Netzanbindung anders als über den Bonner Verein »Schulen ans Netz« [1], der die Koordination des Projekts übernommen hat, zu erreichen. Sie bemühen sich um Sponsoren in ihrem lokalen Umfeld. Den Schwierigkeiten im Umgang mit den Rechnern und dem Netz begegnen zumindest einige Lehrer pragmatisch. Bei der Hotline des DFN-Vereins kennt man schon das Phänomen, daß der Lehrer die Nummer wählt und dann den Hörer an einen Schüler weiterreicht. Was den Lehrern an Fortbildungsmöglichkeiten fehlt, versuchen sie durch Beharrlichkeit wettzumachen. »Eine beratungsintensive Zielgruppe« nennt Gudrun Quandel vom DFN ihre neue Klientel und lacht.

Was motiviert Lehrer und Schüler, den bekannten Lehrstoff zu erweitern? Den Lehrern böte sich die Möglichkeit, Unterrichtsmaterial über das Netz zu besorgen. Ein Beispiel bietet der »Deutsche Bildungsserver« [2], der an der Humboldt-Universität in Berlin gepflegt wird. Eine Datenbank, in der Lehrstoff Fächern und Schulstufen zugeordnet ist, verspricht eine schnelle Lösung. Ein praktischer Test, die Nachfrage nach Anregungen für den Kunstunterricht in der Grundschule, zeitigte nur ein Ergebnis: Ein Verweis auf einen amerikanischen Server. Das Dokument selbst erwies sich ohne praktischen Wert; die Vorschläge, etwa zur Herstellung von Transparentpapier, waren bereits bekannt.

Der Magdeburger Medienphilosoph Mike Sandbothe begegnet solchen Beobachtungen mit dem Argument der Zeit. Anstatt mühsam in Bibliotheken nach Anregungen zu forschen, verspricht er, daß Lehrer und Schüler wieder mehr Muße haben werden »um zu denken, zu analysieren und mit ihren eigenen Überlegungen kreativ voranzuschreiten.« [3] Die chaotischen Zustände im Netz lassen solche Prophezeiungen nach Zukunftsmusik klingen. Die Orientierungsmöglichkeiten, die Vorhaben wie der »Deutsche Bildungsserver« bieten sollen, müssen erst noch ausgebaut werden.

Eine ganze Unterrichtseinheit kann zudem sehr umfangreich sein und die Telefonkosten, wenn sie über das Netz bezogen wird, in schwindelnde Höhen treiben. Die Überlegungen von Hartmut Bluhm am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung gehen daher in eine andere Richtung. Unterrichtsmaterial soll auf CD-Roms gepreßt werden. Das Netz dient dann dazu, die Daten auf der Silberscheibe mit neueren Informationen aufzufrischen.

An dieser Stelle verschwindet das Netz fast schon wieder aus der Schule. Wozu der Aufwand, wenn neue Informationen auch auf Disketten verteilt werden könnten? Vielleicht, weil so der Unterricht lebendiger gestaltet werden kann? Einige Schulen arbeiten bereits an E-Mail-Projekten. Im Erdkunde-Unterricht eines Gymnasiums in Hamburg-Eimsbüttel arbeiteten die Schüler mit denen der amerikanischen Partnerschule zusammen. Thema: Ozonloch. Die Schüler diesseits und jenseits des Antlantiks sammelten unter anderem Daten zum Autoverkehr und zum CO2-Ausstoß in ihrer jeweiligen Umgebung und tauschten diese über das Netz aus. Aus Schülersicht erhält dann nicht nur der Englischunterricht einen anderen Sinn: Der theoretischen Übung folgt die praktische Umsetzung.

Die Schattenseiten des Netzes in Form von Pornographie und rechtsradikalem Gedankengut bleiben in der Schule ohne Bedeutung. Die Beschäftigung mit dem Internet gehört zum Unterricht, und somit ist eine Aufsicht gegeben. Zudem wird das Netz auch offensiv genutzt: Anschauungsmaterial für den Unterricht zum Dritten Reich besorgten Schüler im Rahmen einer Projektwoche aus dem Internet.

Ein anderes Problem, die Frage des Datenschutzes, wird dagegen erst ab der elften Klasse im Informatikunterricht behandelt. Die gravierende Veränderung, die sich hier mit der Nutzung des Internet abzeichnet, hat im Lehrplan noch keinen Platz gefunden. Es dürfte sich aber als unabdingbar erweisen, alle zukünftigen Netznutzer über die Datenspuren, die sie hinterlassen, aufzuklären und ihnen Maßnahmen zur Sicherung der Privatsphäre nahezubringen.

Nach wie vor liegt die Unterrichtsgestaltung im Ermessen der Lehrer. Deren Interesse und Fähigkeit bestimmen, ob das Netz im Schulalltag berücksichtigt wird. Von ihrer Initiative hängt es ab, den Fremdkörper Computer zu einem Medium zu machen, das zur Anschaulichkeit und Alltagsnähe des Unterrichts beitragen kann. Vielleicht sollten sie sich an der pragmatischen Unverfrorenheit der Drittklässler ein Beispiel nehmen und die Rechner solange triezen, bis das Ergebnis stimmt.

[1] http://www.san-ev.de/
[2] http://dbs.schule.de/
[3] http://www.uni-magdeburg.de/~iphi/ms/schule.html