Erschienen in CIO 1/2003.

Phantasmen der Technik

Der Hype ist in der IT-Branche so alltäglich wie die Butter auf dem Brot. Immer wieder werden Luftschlösser errichtet, die sich bei der Enthüllung - wenn es denn je dazu kommt - als simple Garage entpuppen. Wie kommt es zu den scheinbaren Revolutionen?

"Diesmal, versichern die Experten, gehe es um eine wahrhaft tiefgreifende technische Revolution." "Möglich macht diese Wunder der Technik eine Innovation, die schon bald ihren Siegeszug um den Globus antreten soll." Ohne ihren konkreten Bezugspunkt passen die Zitate zu vielen aktuellen Themen: Wireless LANs, Biometrie oder Grid Computing. In diesem Fall stammen sie aus einem Artikel der Financial Times Deutschland zu Web Services.

Während unbedarfte Betrachter der Szenerie den Eindruck gewinnen könnten, die IT-Branche taumele von Revolution zu Revolution, sehen Skeptiker den Hype am Werk: Einem großartigen Versprechen, dem ein Übermaß an Aufmerksamkeit folgt, wird unweigerlich der Realitätsabgleich folgen. Die übersteigerten Erwartungen an eine unfertige Technik müssen sich den tatsächlich realisierbaren Möglichkeiten beugen. Und im Zuge der Desillusionierung schwindet auch das öffentliche Interesse. Der Zyklus ist durchschritten.

Mit Schuldzuweisungen, wer für den Hype verantwortlich ist, sind alle Beteiligten schnell bei der Hand. Die Journalisten berufen sich auf "die Experten" oder die Analysten. Diese revanchieren sich mit einem Verweis auf "Medieneffekte". Bei den Herstellern betrachten die Techniker das Treiben ihrer Marketing-Abteilungen mit Argwohn, wenn ihnen wesentliche technische Details in schillernden Worthülsen verschwinden. Doch gerade die PR-Fachleute beklagen wiederum den großen Aufklärungsbedarf. Niemand will's gewesen sein - und doch grassiert der Hype in der IT-Branche.

Befragt nach dem "warum" zeigen sich je nach Sparte unterschiedliche Erklärungsmuster. Elmar Hilgers, Managing Director des englischen Herstellers für biometrische Identifikationssysteme IdentALink, verweist auf den 11. September. Durch den Anschlag habe das Thema Biometrie Oberwasser gewonnen. "Danach wurden viele Unternehmen kurzfristig geboren." Ähnlich sieht es Michael von Foerster, Pressesprecher der Bochumer Spezialisten für Gesichtserkennung ZN Vision. Zudem schnellten die Aktienkurse der Biometrie-Unternehmen nach dem 11.9. in ungeahnte Höhen und "börsennotierte Unternehmen bellen häufig, um den Kurs oben zu halten."

Der Abschwung in der thematischen Karriere der Biometrie folgte prompt. "Es tummeln sich viele schwarze Schafe im Markt", so von Foerster. Die versprechen beispielsweise per Gesichtserkennung, Einzelne in einem Strom von Menschen identifizieren zu können. "Das kann die Technik noch nicht leisten", bestätigt auch Peter Bittner, der sich als Informatiker an der Humboldt-Universität Berlin mit Video-Überwachung befasst. Doch das unseriöse Gebahren erweist sich schnell als kontraproduktiv für die gesamte Branche.

Meldungen wie "Biometrie-System mit Gummibärchen überlistet" sorgten dieses Jahr zusätzlich für Verwirrung. "Die Kunden lassen sich dadurch verunsichern" meint von Foerster. ZN Vision sah sich daher genötigt, Fingerabdrucksysteme für das Login am PC, die sich oft sehr einfach austricksen lassen, von der eigenen Technik der Gesichtserkennung abzugrenzen.

Spätestens zum Anfang des Jahres setzten die Analysten in seltener Einmütigkeit Web Services auf die Agenda. Die ersten weniger positiven Schlagzeilen deuten darauf, dass sie den Zenit des Hype erreicht haben. Achim Oellers, Vorstand der Korschenbroicher Firma Newtelligence, die sich vor allem mit Microsofts Variante .net befasst, begründet die bisherige Attraktivität von Web Services mit ihrer "genialen Einfachheit": "Die technische Realisierung ist billig zu haben und generell funktionieren Web Services bereits." Allerdings seien Transaktionen noch problematisch und Sicherheitsfragen auch noch zu lösen. Doch Oellers sieht das pragmatisch: Um auch die letzten fünf Prozent der Anforderungen zu erfüllen, steige der technische Aufwand enorm. "Dann wird der Euphorie die Ernüchterung folgen."

Uwe Lehr, Geschäftsführer des Integrators Iona für den deutschsprachigen Raum, beobachtet seit einiger Zeit eine zunehmende Verwirrung im Markt für Web Services. Wenn Firmen wie SAP, Siebel oder Baan sich zu Web Services bekennen, verleihen sie allein durch ihre Namen dem Zug Fahrt. Viele Kleinere sprängen dann ebenfalls auf, und die Missverständnisse häuften sich. "Auf einmal heißt es: 'Wir machen auch Web Services', obwohl damit selten mehr als ein herkömmliches Intranet gemeint ist." Parallel dazu sieht Lehr im gleichen Maß wie die Berichterstattung zunimmt, auch den Erklärungsbedarf steigen.

Während die Spezialisten den Hype um die jeweilige Technik erklären können und vielfach übereinstimmen, bleibt offen, was die IT-Branche insgesamt so anfällig macht. Hier gehen die Ansichten weit auseinander. Mit dem Internet habe sich eine grundlegende Offenheit für alles Neue etabliert, meint Achim Oellers. Elmar Hilgers verweist dagegen auf den DotCom-Boom, der zuviel Geld ins Marketing gespült habe. Während Uwe Lehr den Medien Voreingenommenheit zuschreibt, bedauert Michael von Foerster den Mangel an sachlichen Informationen.

Unterschwellig schwingt dabei immer wieder die Aufforderung mit, der Journalist möge die eigene Rolle berücksichtigen. Der Berührungspunkt ist offensichtlich: Der Hype ergreift vorwiegend neue Themen, mit denen sich auch Journalisten befassen. Im schlimmsten Fall lassen sie sich dabei als reine Multiplikatoren einsetzen, die Vorabinformationen mit wohlwollender Berichterstattung erkaufen. Gängiger sind jedoch "Übersetzungsfehler", die sich automatisch ergeben, wenn die sprachlich kargen technischen Informationen verständlich dargestellt werden sollen. Die in der technischen Fachsprache durch Definitionen ausgeklammerte Mehrdeutigkeit nistet sich ein und eröffnet Interpretationsspielräume.

Auf einer anderen Ebene setzt Alexander Linden an. Er ist Research Director bei Gartner und beteiligt an der jährlichen Kartierung des Hype Cycles. Linden stellt den Hype in Beziehung zum Potenzial einer Technik, sowohl in geschäftlicher Hinsicht als auch mit Blick auf ihre Macht zur Gestaltung. "Je mehr Möglichkeiten die Technik zu eröffnen verspricht, desto eher greift der Hype." Zudem trage der Mangel an Verständnis für die Implikationen einer Technik ebenfalls zum Hype bei. So ist das Internet-Protokoll durchgängig bekannt. Die Unterschiede zwischen der derzeitigen Version 4 und der neuen Version 6 verleiten niemanden zu Visionen. Das Feld der Web Services ist dagegen noch nicht vollständig abgesteckt. Dadurch erhält die Phantasie den Raum, den sie für ihre Luftschlösser benötigt.

Die Grenzen des Hype zeigt Franz Liebl auf. Der Professor für Strategisches Marketing an der Universität Witten/Herdecke stellt klar, dass "vollständig Neues vor den Kopf stößt, weil es nicht verständlich ist." Themen und auch Techniken müssen an Bekanntes anschließen, um akzeptabel zu sein. Dabei spielen IT-interne Determinanten nicht unbedingt eine tragende Rolle, wie Liebl mit dem Verweis auf SMS illustriert. Gerade die Beschränkung der Kurzmitteilungen hätte bei Jugendlichen an deren Vorliebe für Geheimcodes anknüpfen können und so zum Erfolg geführt.

Letztlich reicht es nicht für einen Hype, "wenn nur ein kommunikatives Milieu ein Thema verhandelt", so Liebl. Zwingend notwendig ist, dass es aus den technischen Zirkeln in andere Kreise durchsickert. Erst wenn eine Technik auch vor dem jeweiligen Hintergrund der Analysten oder der Journalisten Bestand hat, können sie ihren Beitrag zum Hype leisten.

Womöglich schaukeln sie sich dabei gegenseitig auf. Dann muss der Schluss lauten: Alle sind's gewesen.